Ein kleiner Übetipp für eine klassische Situation: In vier Tagen ist Weihnachten und das Weihnachtslied, das man unterm Tannenbaum spielen will, schwächelt noch ein bisschen. Stellen wir uns ein Stück von etwa einer Seite vor, sechzehn Takte in vier Zeilen, sowas wie „Oh du fröhliche“, eigentlich nicht so schwer. Der Anfang geht richtig sicher, aber am Ende der zweiten Zeile stockt es. Die dritte geht dann wieder besser, aber die letzte bringt man nur mit Ach und Krach zu Ende.
Bevor man das Ganze absagt, könnte man versuchen, einmal anders zu üben. Die meisten Schüler üben von vorne nach hinten oder spielen vielleicht auch eher nur durch (aber das natürlich auch von vorne nach hinten ;)) und ich schlage mal die umgekehrte Richtung vor. Wir fangen hinten an. Womit ich aber nicht meine, das Lied jetzt rückwärts zu spielen, wie eine kleine Schülerin neulich, die tatsächlich mit beiden Händen beim letzten Ton anfing und sich dann Note für Note wacker in umgekehrter Richtung durch die letzte Zeile arbeitete. Das wäre sicher auch mal ein tolles Experiment, aber dafür haben wir bei unserem Weihnachtslied jetzt keine Zeit- Heiligabend ist in vier Tagen!
Nein, wir fangen mit dem letzten Takt an. Und ja, auch, wenn der letzte Takt nur aus einem Akkord besteht. Diesen Akkord spielen wir ganz in Ruhe ein paar Mal, bis wir anfangen, entspannt damit zu sein. Das ist der Akkord, der uns am Ende des Stücks empfängt wie ein Nest, wie Nach-Hause-Kommen, schön, wenn wir ihn so gut kennen.
Als nächstes sehen wir uns den vorletzten Takt an, spielen ihn ein paar Mal, machen ihn uns klar und spielen dann auch ein paar Mal die letzten beiden Takte, also vom vorletzten Takt bis zum Schlussakkord. Und wahrscheinlich geht das bald schon ganz gut. Auf diese Weise beginnen wir immer einen Takt früher und lernen so die vier Takte der letzten Zeile. Wenn wir das haben, sind schon ein paar Minuten um. Ich bin immer dafür, sich nicht zu lange festzubeißen und würde vorschlagen, die letzte Zeile nun einfach ruhen zu lassen und vielleicht später am Tag das Ganze noch mal zu wiederholen. Aber vielleicht ist ja noch Energie da, also mache ich mich auf die gleiche Weise an die zweite Zeile, die ja noch immer holpert. Und dann lasse ich auch die zuerst mal bis später liegen. Die Zeit zwischen dem Üben, die Pause, das Loslassen sind wichtig, weil die Nervenbahnen Zeit brauchen zum Wachsen.
Beim nächsten Üben kann man das Lied zu Beginn ruhig ein, zwei mal durchspielen und eine kleine Bestandsaufnahme machen. Die letzte Zeile läuft schon besser, aber natürlich noch nicht perfekt und deshalb kann man die ganze Prozedur ruhig noch einmal machen. Und wahrscheinlich braucht man weniger Zeit als beim Mal davor. Sinnvoll ist es natürlich auch, die dritte und vierte Zeile im Zusammenhang zu spielen, genau wie die erste und die zweite.
Wenn man sich so an drei aufeinanderfolgenden Tagen zwei mal 10 Minuten mit dem Lied beschäftigt, wird es wahrscheinlich schon recht sicher gehen.
Aber warum ist dieses Üben von hinten nach vorne so effektiv und sinnvoll?
Zum einen, weil man den Anfang eines Stücks sowieso schon am meisten gespielt hat und auf diese Weise den vernachlässigten Teilen mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmet.
Dann, weil gegen Ende eines Stücks die Aufmerksamkeit und Konzentration nachlassen, gerade, wenn man noch nicht so sicher ist. Um so wichtiger, auch die zweite Hälfte gut zu können.
Außerdem übt man, immer wieder an einer anderen Stelle mitten im Stück anzufangen, was nicht nur gut für die Orientierung und das wirkliche KENNEN des Stücks ist (im Gegensatz zum automatischen Durchschwimmen). Man findet da, wo man beginnt, auch bessere Positionen für die Finger, lernt, sich an Stellen Idealbedingungen zu schaffen, mit denen sie leichter gehen und wird automatisch oder mit ein bisschen Dran- Denken versuchen, diese Bedingungen auch beim Durchspielen, wenn man an der Stelle wieder ankommt, herzustellen.
Viel Spaß beim Üben und Frohe Weihnachten!