Jedes Jahr vor Weihnachten veranstalte ich mit meinen Schülern zwei Weihnachtsvorspiele, kleine Konzerte, bei denen Eltern, Verwandte und Freunde zuhören können. Vor allen längeren Ferien versuche ich auch, Möglichkeit zum Vorspielen zu geben. Im Unterschied zu den Weihnachtsvorspielen treffen wir uns da aber ohne Zuhörer von außen, nur die Schüler und ich, meist am letzten Schultag, da sind alle in Erwartung der Ferien schön entspannt. 🙂
Wir haben kein festes Programm, keine festgelegte Reihenfolge, auch halbe oder halbfertige Stücke sind möglich. Diese Treffen, bei denen man sich gegenseitig vorspielt, würde ich eher als Werkstattvorspiele bezeichnen, die neben dem Interesse an dem, was die anderen gerade so spielen, vor allen Dingen der Selbsterfahrung dienen. Werkstatt heißt, das Produkt, in diesem Fall das Stück, das man gerade übt, ist nicht fertig, sondern in Arbeit und man testet, wie es sich unter erhöhter Belastung verhält.
Dass unsichere Stellen in Stücken unter Nervosität nicht unbedingt besser werden, diese traurige Erfahrung hat wahrscheinlich schon jeder Musiker gemacht. 😉 Aber vielleicht kennt man auch den Zustand, unter Adrenalin mehr Energie zu haben oder dass einem in der Resonanz mit dem Publikum die Kantilene des langsamen Seitenthemas ausdrucksstärker gelingt.
Egal, wie man auf ein anderes Klavier, andere Akustik oder Zuhörer reagiert, ob man mehr oder weniger unter Lampenfieber leidet, Tatsache ist, dass man auf die veränderte Situation reagiert. Der Körper fühlt sich anders an, das Gehirn arbeitet anders, die Wahrnehmung verändert sich. (Von dem, was vielleicht auf der gedanklichen oder emotionalen Ebene in einem vorgeht, ganz zu schweigen.)
Als ich mit knapp 12 Jahren das erste Mal beim Regionalwettbewerb von „Jugend musiziert“ in Aachen teilnahm, war ich eine sehr ungeübte Vorspielerin. (Meine jüngeren Erfahrungen beschränkten sich auf einen Auftritt bei der Abifeier meiner Schule, bei dem meine größte Sorge war, wie ich den von meiner Erdkundelehrerin geforderten Knicks beim Applaus unterbringen sollte.) Das Wettbewerbsvorspiel fand im Audimax statt, die Bühne war riesig, darauf der große schwarze Flügel, in der ersten Reihe drei griesgrämig guckende Juroren, im hinteren Teil des Saals ein paar versprengte Eltern. Ich kann mich nicht erinnern, sehr nervös gewesen zu sein, aber ich weiß, dass ich die Situation als unangenehm empfand. Ich spielte Mozarts Variationen über „Ah vous dirai-je maman“ und ich begann sie zu schnell und wurde dann noch immer schneller, so dass ich in der letzten Variation fast aus der Kurve flog. Das war aber neben einem allgemeinen Mich-Unwohl-Fühlen interessanterweise das Einzige, was ich bemerkte. Die Veränderung im Tempo hatte sich meiner Wahrnehmung komplett entzogen.
Tatsächlich ist die Veränderung des Tempo-Gefühls ein ganz typisches Phänomen, wenn man aufgeregt ist. Der Grund liegt auf der Hand. Das ausgeschüttete Adrenalin sorgt als erstes dafür, dass die Herzfrequenz steigt. Nun braucht es sowieso einige Übung, sich das Tempo, in dem man ein Stück spielen will, zu merken. Um wieviel schwerer ist es aber, Tempo zu erinnern, wenn unser eigener Puls, unser eigenes Grundtempo, auf das wir uns unbewusst beziehen, gerade anders ist als normalerweise. Tempogefühl zu objektivieren ist gar nicht einfach und meiner Erfahrung nach ein Prozess, der Jahre dauert. Sich immer wieder unterschiedlichen Situationen aussetzen ist eine gute Übung.
Das Tempo ist aber nur ein Beispiel für Dinge, die wir unter Stress anders wahrnehmen oder anders machen. Bei meinen Schülern beobachte ich, dass Bewegungen oft vorsichtiger, kleiner werden, das betrifft nicht nur Hände und Finger, sondern sogar die Bewegung des Fußes am Pedal. Es gibt vieles zu entdecken und oft reicht es schon, die Veränderungen bewusster zu erleben, um besser mit ihnen umgehen zu können. Und die Erfahrung, mit einer Vorspielsituation umgehen zu können, reduziert wiederum die Nervosität vor dem nächsten Vorspielen.
Übrigens ist es auch für „richtige“ Konzerte gar keine schlechte Idee, sie aus der Werkstatt- Perspektive anzugehen, die Stücke und ihre Interpretation mehr als eine Annäherung und das Vorspielen als Erfahrung und sich selbst damit im Prozess zu betrachten. Diese Haltung entspannt eher, als sich nur auf Resultat und Leistung zu fokussieren. Michael Bohne schreibt in seinem Buch „Klopfen gegen Lampenfieber“, dass Profimusiker in Untersuchungen berichten, dann in Konzerten locker zu sein, wenn sie sich fühlen wie beim Üben. (-Beim Versuch, die Textstelle nachzugucken, stelle ich fest, dass meine beiden Exemplare des Buches gerade wieder in Umlauf sind…, wen wundert`s…)
Nach neun Jahren Klavierunterricht schrieb mir eine Schülerin einen wunderbaren langen Brief, in dem sie unsere gemeinsame Klavier-Zeit ab der ersten Stunde Revue passieren lässt. An einer meiner Lieblingsstellen äußert sie sich auch zu den vielen (und manchmal nervenaufreibenden) Vorspielen:
„Das Vorspielen hat mich also nicht gelehrt, meine Komfortzone zu verlassen, sondern sie zu erweitern!“
So soll`s sein. 🙂
Finde es auch total super, dass es die Weihnachtsvorspiele gibt. Danke, dass Du das machst! Man kann „Auftreten“ üben und hat außerdem ein Ziel — eine Deadline, zu der man ein Stück sicher (genug) können möchte. Das kann super motivieren! 😊
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