Konflikte…

Klavierschulen widmen oft ganze Kapitel dem Thema Staccato und Legato. Knifflig wird es vor allem dann, wenn die Hände Unterschiedliches tun sollen, also die eine Hand staccato, also gezupft spielen soll und die andere legato, gebunden. Das heißt, der Finger der einen Hand geht nach dem Anschlag sofort weg von der Taste, während der Finger der anderen Hand seinen angeschlagenen Ton bis zum nächsten Anschlag halten muss. – Hilfe, das ist ja schon schwer zu erklären!
Für unser Gehirn ist dieses „gleichzeitig“ eine Riesenherausforderung, offensichtlich hat es lieber, wenn beide Hände das Gleiche tun. 😉
Aus diesem Grund wird das Thema oft als ein fortgeschrittenes behandelt und taucht deshalb auch meist erst gegen Ende der ersten Klavierschule auf. Wenn wir uns aber nochmal vor Augen führen, was dieses “ Legato und Staccato gleichzeitig“ eigentlich bedeutet, nämlich eben, dass die eine Hand die Taste angeschlagen halten muss, während die andere gleich loslässt, wird klar, dass man mit dieser Problematik schon viel früher zu tun bekommt, nämlich schon dann, wenn man das erste Liedchen mit einer kleinen Begleitung spielt.
Der Grund liegt in der Natur des Instruments Klavier. Um die gleiche Taste wieder anschlagen zu können, müssen wir sie zuerst loslassen, also weggehen. Jedesmal, wenn wir den gleichen Ton mehrmals hintereinander spielen, müssen wir uns eigentlich so verhalten wie beim Staccato- Spielen. Gerade in Liedern, deren Melodie sich ja über das Singen und nicht am Klavier gebildet hat, gibt es jede Menge dieser Tonwiederholungen, die Begleitung dazu ist aber vielleicht gebunden. Oder umgekehrt: Wir haben eine Liedstimme, die sich gut binden lässt und begleiten sie mit einer Dudelsackquinte, die wir immer wieder lösen und neu anschlagen müssen. In beiden Fällen haben wir den Konflikt zwischen Binden und Absetzen, zwischen Halten und Loslassen.
Bei Liedern ist es zudem so, dass wir am Ende einer Liedzeile abphrasieren, d.h. da, wo die Sängerin atmet, geht die Hand weg und macht eine Pause, setzt quasi ein Komma. Idealerweise macht die begleitende linke Hand diese Phrasierung aber nicht mit, sondern verhält sich wie der gute Begleiter, der auch nicht die Hände von den Tasten und den Fuß vom Pedal nimmt, wenn der Sänger atmet.

Natürlich können wir dieses Thema nicht in allen Feinheiten im Anfangsunterricht bearbeiten, aber es wichtig, es früh bewusst zu machen. Bleibt es unerkannt, passiert meist Folgendes: Unbewusst versucht das Gehirn, die beiden unterschiedlichen gleichzeitigen Anforderungen einander anzunähern, d.h., die Hand, die eigentlich loslassen soll, klebt an den Tasten in einem zum Scheitern verurteilten Versuch, es der bindenden Hand gleichzutun; dann, wenn der neue Anschlag schon kommen soll, realisiert sie, dass sie loslassen muss, wobei dann die Hand, die eigentlich binden soll, gleich mit loslässt.
Oft haben Schüler an solchen Stellen, selbst wenn sie sich „durchschummeln“ können, ein diffuses Gefühl, dass sie hängen und deuten genau darauf, wenn ich frage, wo sie sich noch unsicher fühlen.

Okay, wie kann man solche Stellen üben? Koordinationsmäßig sind sie ungefähr so anspruchsvoll wie Fahrradfahren, tollerweise brauchen wir aber keine Mindestgeschwindigkeit, um das Gleichgewicht zu halten, deshalb können wir langsam (eins der drei Lieblingsworte von Klavierlehrern) üben. Langsam heißt hier: Rhythmus und Tempo völlig ignorieren und nur die Bewegung üben.

Ich sehe mir die Stelle quasi unter dem Vergrößerungsglas an, d.h. ich gucke zuerst einmal genau, zwischen welchen Noten der Konflikt entsteht, wo die Nahtstelle ist, an der beim ersten Anschlag die eine Hand den Ton halten muss, (um beim nächsten Anschlag zu einem anderen Ton, zu einer anderen Taste weiterzubinden), die andere aber loslassen muss, (um beim nächsten Anschlag wieder die gleiche Taste neu anschlagen zu können).

Wenn mir das klar ist, versuche ich, nur bis zum Ende des ersten Anschlags zu spielen. (Ich sage „versuche“, weil schon das gar nicht so einfach ist….)

Wenn ich es geschafft habe, da wirklich anzuhalten, schaue ich mir meine Hände an. Idealerweise sollte die eine noch die angeschlagene Taste halten, die andere aber nicht. Wahrscheinlicher ist, dass entweder beide halten oder beide in der Luft sind. 😉
Sind beide in der Luft, muss ich zuerst versuchen, beide an den Tasten zu lassen.
Wenn beide noch halten, nehme ich die Hand, die absetzen muss, weg. Diese kleine Übung wiederhole ich ein paarmal mit dem Ziel, die absetzende Hand schon früher zu lösen, sie schließlich gleich nach dem Anschlag wegzunehmen.

Es lohnt sich, diese Bewegung zu übertreiben, d.h. die absetzende Hand darf weit weg von den Tasten gehen. Auf diese Weise macht man sich die Unterschiedlichkeit des Tuns auch physisch wirklich bewusst. Diese Übertreibung der Bewegung ist natürlich ein Zwischenschritt, später kann man sie wieder kleiner machen.
Meist gelingt dieses Weggehen schon nach einigen Versuchen, so dass, wenn man einen Schnappschuss von der Nahtstelle machen würde, die eine Hand in der Luft ist, die andere die Taste noch angeschlagen hält.

Wenn ich das geschafft habe, darf ich weiterspielen, also in jeder Hand den nächsten Ton anschlagen. Auch hier gilt es wieder langsam zu sein, wieder völlig die Anforderungen von Rhythmus und Tempo zu ignorieren, nur zum nächsten Ton zu finden und zwar, ohne dass die bindende Hand doch noch im letzten Moment loslässt. Auch diesen erweiterten Ablauf muss ich wiederholen, damit er sich einprägt.

Natürlich kommen irgendwann wieder Rhythmus und Tempo dazu, das geschieht fast von selbst. Denn wie die Motivationstrainerin Vera Birkenbiel so schön in einem ihrer tollen Vorträge sagt: “ Schneller werden wir von alleine.“
Der Aufwand für eine kleine Stelle mag  groß erscheinen, letztendlich wird man sich aber nicht länger als ein paar Minuten damit beschäftigen müssen und beim nächsten Üben wird es schon leichter gehen. Jede weitere Stelle mit dieser Problematik ist irgendwann nur noch ein Wiedererkennen und man bekommt schon beim Lesen der Noten einen Blick dafür.

Also, der Aufwand lohnt sich für ein ganzes Klavierspielerleben. 🙂

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